Am 13. November trafen sich die Mitglieder vom Forum Sozialversicherungswissenschaft e.V. zur 10. Mitgliederversammlung des Vereins. Anschließend hatten die Mitglieder und alle Interessierten die Gelegenheit, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen.
Dazu veranstalteten das Forum Sozialversicherungswissenschaft e.V. und die Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP) eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Ist das (noch) Meinung oder kann das weg? Diskurs in Zeiten der Polarisierung.“ Unter der Moderation von Prof. Dr. Michael Heister, Vorsitzender des Forums und Abteilungsleiter beim Bundesinstitut für Berufsbildung, diskutierten vier Fachleute vor über 120 Teilnehmenden über die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, die Grenzen der Meinungsfreiheit und die Herausforderungen für den demokratischen Diskurs.
Als Expertinnen und Experten waren Dr. Carolina Tobo Tobo, Antidiskriminierungstrainerin und Diversity-Managerin, Prof. Dr. Stefan Brüggemann, Geschäftsführer der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik, Eugenia Gagin, Wirtschaftsrechtlerin und Unternehmerin, sowie Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper, Philosoph und ehemaliger Rektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft eingeladen. Die über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten somit die Möglichkeit, die Thematik aus interdisziplinären Blickwinkeln zu betrachten.
Ein differenziertes Bild von Polarisierung und Meinungsfreiheit
Der Abend begann mit der Frage, wie Meinung und Hass voneinander zu unterscheiden seien und welche Verantwortung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung einhergeht. Die Expertinnen und Experten waren sich einig, dass Polarisierung eine ernsthafte Herausforderung darstellt, wobei die Gründe und Ausprägungen unterschiedlich beurteilt wurden. Dr. Carolina Tobo Tobo merkte an, dass die Spaltung in Deutschland im Vergleich zu den USA weniger stark ausgeprägt sei, aber wachse – besonders durch rechtsextreme Gruppen und Parteien und die Verstärkung ihrer Botschaften in sozialen Medien. Laut Dr. Tobo Tobo stellt die digitale Vernetzung durch soziale Medien einen „Beschleuniger der Polarisierung“ dar.
Prof. Dr. Stefan Brüggemann argumentierte, dass extreme Positionen in der deutschen Diskussionskultur oft eher ausgeklammert werden, da sie den Diskurs selten bereichern. Dabei berichtet er auch von der Arbeit der BAPP, die politische Entscheidungsträger aus diesem Spektrum selten einlädt, da nicht mit einer gewinnbringenden Debatte zu rechnen ist. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit rechtsextremen Parteien sei problematisch, da diese weder zu einem konstruktiven Diskurs beitrügen noch über ausreichend kompetente Redner verfügten.
Unternehmenssicht auf Polarisierung und politische Willensbildung
Eugenia Gagin, Unternehmerin und Gründerin der Plattformen „Dentalheld“ und „Climb&Rise“, erläuterte, dass sich die Diskussionskultur zwischen öffentlichen und privaten Kreisen deutlich unterscheidet. In Unternehmenskreisen, besonders unter Gründerinnen und Gründern, gäbe es oft eine hohe Bereitschaft zu differenzierten Diskussionen. Ein interessanter Aspekt sei die Wahlneigung von Gründerinnen und Gründern, die in einer Umfrage stark auf Parteien wie die Grünen und die FDP entfallen sei. Gagin führte dies auf die Tatsache zurück, dass viele Start-ups und Unternehmen auf international qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen sind, was sich nicht mit der migrationskritischen Position von rechtsextremen Parteien verträge.
Philosophischer Blick auf Polarisierung und die Rolle der Hochschulen
Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper warf einen differenzierten Blick auf den Begriff der Polarisierung und warnte davor, ihn vorschnell als gesellschaftliche Realität zu akzeptieren. Er sah in der aktuellen Debatte weniger eine Polarisierung, sondern vielmehr eine Zunahme an Polemik und aggressiver Kommunikation. Pieper betonte, dass die Diskussionskultur an Hochschulen weiterhin konstruktiv sei, solange man sich vor „intellektuellen Blasen“ schütze, die den Austausch einschränken könnten.
Auf die Frage, ob ein Verbot von rechtsextremen Parteien sinnvoll sei, betonte Dr. Carolina Tobo Tobo die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen. Ihrer Ansicht nach gehe es dabei nicht nur um den Schutz von Minderheiten, sondern um die Bewahrung einer vielfältigen Gesellschaft und um eine klare Stellungnahme gegen die Ideologien, die von rechtsextremen Parteien vertreten werden.
Pieper hingegen plädierte für den Schutz des Rechts auf Meinungsäußerung innerhalb demokratischer Grenzen. Ein Verbot sei problematisch, solange sich die Meinungsäußerung faktisch und respektvoll gestalte. „Die Demokratie lebt vom Austausch und der Auseinandersetzung,“ so Pieper, „auch mit Positionen, die von der Mehrheit als kontrovers angesehen werden.“
Die Rolle der Medien und die Verbreitung von Desinformation
Die Expertinnen und Experten waren sich einig, dass die traditionellen Medien eine zentrale Rolle bei der Entlarvung von Falschaussagen und Provokationen, insbesondere aus dem rechten politischen Spektrum, spielen müssen. Dr. Carolina Tobo Tobo führte als Beispiel Berichterstattungen über politische Reformen an und mahnte dazu, Provokationen rechter Politiker nicht ungefiltert weiterzugeben. Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper hob die Bedeutung starker Medien hervor, die unabhängig berichten und Desinformation entgegenwirken können, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Gagin ergänzte, dass der Wahlkampf zunehmend auf Social Media ausgetragen werde, wo emotionale und oft vereinfachte Botschaften die sachliche Auseinandersetzung erschweren. Wahlentscheidungen würden vermehrt von emotionalen Faktoren beeinflusst, was die Polarisierung zusätzlich verstärke.
Prof. Dr. Stefan Brüggemann fügte außerdem hinzu, dass zum Abbau von Polarisierung auch die Gesellschaft beitragen müsse, indem sie sich gesellschaftspolitisch engagiert. So seien gerade mal ca. 1,5% der Bevölkerung Mitglied einer Partei, davon sind nur ein Bruchteil aktiv in der Politik. Das politische System der Demokratie sieht jedoch vor, dass sich ein weitaus größerer Teil politisch engagiert, um kein Machtvakuum für rechte Parteien entstehen zu lassen.
Resümee: Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und demokratischer Verantwortung
Die Diskussion zeigte auf, dass die Balance zwischen freier Meinungsäußerung und der Notwendigkeit, antidemokratische Tendenzen zu unterbinden, eine komplexe Herausforderung ist. Die Frage, ob Polarisierung oder vermehrte Polemik das größere Problem darstellen, wurde an diesem Abend nicht abschließend geklärt, aber differenziert diskutiert. Einigkeit bestand darin, dass sowohl Medien als auch die Gesellschaft im Umgang mit extremen Positionen eine klare Haltung einnehmen müssen, um den demokratischen Diskurs zu schützen und die gesellschaftliche Vielfalt zu wahren.
Die Veranstaltung bot tiefgreifende Einblicke und zahlreiche Anregungen für einen kritischen Umgang mit Meinungsfreiheit in Zeiten der Polarisierung und ermutigte die Teilnehmenden, gesellschaftliche Verantwortung für einen respektvollen und konstruktiven Diskurs zu übernehmen.