Ende Juni fand der zweite Termin der Veranstaltungsreihe „Zeit für einen Gedankenaustausch“ des Forums Sozialversicherungswissenschaft e.V. statt. Nachdem die Teilnehmer Ende Mai noch über intertemporale Freiheitsrechte und deren Bedeutung für die Sozialpolitik diskutierten, wurde nun über das Thema „Gerechtigkeit unter Corona“ debattiert. Prof. Dr. Hans-Joachim Pieper, Rektor der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn, bereicherte den Gedankenaustausch mit einem spannenden Vortrag in die Welt der Philosophie.
Zu Beginn begrüßten Herr Professor Laurenz Mülheims (Vorsitzender des Forums) und Herr Patrick Baues (Geschäftsführer des Forums) die Teilnehmer der Videokonferenz. Sodann referierte Herr Professor Pieper über Rahmenbedingungen eines Diskurses von Gerechtigkeit, Verfahren zur Festlegung von Gerechtigkeitsgrundsätzen und allgemeinen Überlegungen zu den Corona-Bedingungen und Maßnahmen.
Sein Vortrag begann mit der Hiobsgeschichte in der Bibel und der Wette zwischen Gott und Satan, führte über den schottischen Philosophen David Hume zum französischen Philosophen Albert Camus sowie schließlich zu den modernen Gerechtigkeitsvorstellungen nach John Rawls. Anschließend gab es eine Diskussion zur Forderung nach Gerechtigkeit in Zeiten von Corona.
Es wurde insgesamt deutlich, dass es keine absolute Gerechtigkeit geben kann – denn dies würde eine Art gottgleiche Gerechtigkeit erfordern. Zugleich liegt ein Missverhältnis zwischen den Fragen der Menschen nach Gerechtigkeit und der Antwort der Natur vor, die ihrerseits nicht an Gerechtigkeit orientiert ist. Insofern bleibt die Frage, was zu einer Annäherung an allgemein empfundener Gerechtigkeit führen kann.
Als langjähriges Forumsmitglied skizzierte Herr Professor Pieper in Anlehnung an John Rawls sodann Kriterien für Gerechtigkeit. Demnach sollte jeder über die gleichen Grundrechte und Pflichten verfügen sowie soziale Ungleichheiten nur dann existieren, wenn sich daraus auch Vorteile für alle anderen ergeben – gerade auch den Schwächsten. Um formal gerechte Regeln zu gestalten, braucht es dazu den „Schleier des Nichtwissens“ – die Entscheidungsträger und Gestalter von Rahmenbedingungen für Gerechtigkeit dürfen also nicht wissen, welchen Status oder welche Position sie in der Gesellschaft innehaben. Andernfalls sind Entscheidungsträger eher dazu geneigt, für sie vorteilhafte Rahmenbedingungen zu verabschieden, die gesamtgesellschaftlich ungerecht sind. Durch Herrn Professor Piepers Ausführungen wurde deutlich, dass es für Gerechtigkeit unparteiische Rahmenbedingungen braucht.
In Bezug auf Gerechtigkeit unter Corona offenbarte die Diskussion zwischen den Teilnehmern, dass es durchaus verschiedene Ansichten zum Corona-Management der Bundesregierung gibt. So wurde gerade die Politik gegenüber jungen Menschen als ungerecht empfunden, die sich während der Pandemie solidarisch gegenüber Älteren gezeigt haben. Zusätzlich wurde festgestellt, dass das subjektive Gerechtigkeitsempfinden durchaus ein Indikator für tatsächliche Ungerechtigkeiten sein kann. Auch wenn die Teilnehmer zustimmten, dass die Besonderheit der Pandemie-Situation gewisse Fehler im Management der Krise unvermeidbar macht, wurde kritisiert, dass sich manche Praktiken nicht an gesellschaftliche Gerechtigkeitsregeln orientierten (Stichwort: Maskengeschäfte).
Insgesamt war es wieder ein kurzweiliger Gedankenaustausch, der durch einen anregenden Vortrag des Philosophen Professor Hans-Joachim Pieper in Erinnerung bleibt. Das Forum Sozialversicherungswissenschaft e.V. dankt ihm sehr herzlich und freut sich auf den nächsten Gedankenaustausch, der voraussichtlich Ende September 2021 stattfinden wird.