„Lösungen für den Einzelnen reichen nicht – Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind notwendig!“ – lautet das Fazit von Privatdozent Dr. Stephan Voswinkel vom Institut für Sozialforschung (IfS) bei seinem Fachvortrag in Frankfurt.
Von Dr. Michaela Schuhmann

Zu seinem Vortrag mit dem Titel „Prävention und Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) bei psychischen Erkrankungen“ – hatten das Forum Sozialversicherungswissenschaft e.V. und die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation (BAR) nach Frankfurt eingeladen. Die Gastgeberin, Geschäftsführerin der BAR, Dr. Helga Seel, lud die Forumsmitglieder aufgrund von Umbaumaßnahmen in der BAR kurzerhand in die Räume der benachbarten Deutschen Rentenversicherung Hessen ein, wofür Prof. Laurenz Mülheims, der Vorstandsvorsitzende des Forums, ihr herzlich dankte.

Privatdozent und Soziologe Dr. Stephan Voswinkel vom Institut für Sozialforschung (Foto: Prof. Dr. Christian Rexrodt)

Im Fokus des Vortrages von Stephan Voswinkel steht ein Forschungsprojekt, das er 2016 mit Kollegen des IfS und dem Sigmund-Freud-Institut, unter anderem mit dem bekannten Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie der Goethe-Universität in Frankfurt Dr. Rolf Haubl, durchgeführt hat und bei dem es um Erwerbsarbeit und psychische Erkrankungen geht. Voswinkel deutet auf das Buch mit dem Titel „Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt“* hin, in dem die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden. Die Studie, führt Voswinkel ein, sei „multiperspektivisch durchgeführt worden“. Zum Einsatz seien verschiedene Disziplinen gekommen: Arbeitssoziologie, Professionssoziologie, Sozialpsychologie, Psychodynamik und die Psychoanalyse. Das Untersuchungsdesign, so Voswinkel, sei nicht mit quantitativen, sondern mit qualitativen Methoden und nicht repräsentativ angelegt worden. Insgesamt waren rund 110 Interviews geführt worden, drei verschiedene mit den Patienten selbst, mit den Therapeuten zum eigentlichen Fall, sodann ein weiteres Mal zu ihrem Selbstverständnis, sodann mit Sozialarbeitern und last but not least mit Beteiligten des Betrieblichen Eingliederungsmanagements – mit Letzteren war mit Rücksicht auf die Anonymität der befragten Patienten jedoch nicht über die konkreten Fälle gesprochen worden.

Im Rahmen der Untersuchung, an der sich Patienten und Ärzte von zwei, im Rhein-Main Gebiet beheimateten Kliniken, beteiligt hatten, waren 11 männliche und 12 weibliche, insgesamt 23 psychisch erkrankte Personen ausgewählt worden, die sich in einem Zeitraum von 6 bis 10 Wochen einem Klinikaufenthalt unterzogen hatten. Am meisten vertreten gewesen (12 der 23) seien
Personen, deren Alter in der Gruppe der 31 und 40-Jährigen gelegen habe und die sich folglich im mittleren Alter befunden haben. Stephan Voswinkel bewegte in seiner Untersuchung vor allem eine Frage: „Was sind psychisch belastende Arbeitssituationen?“ Kernproblem sei dabei „die Frage der Kausalität“; denn in der Regel seien es nicht die Arbeitsbedingungen an sich, die die Erkrankung determinierten: „Weder erkranken alle unter den gleichen Arbeitsbedingungen noch erkranken alle mit gleichen psychischen Dispositionen bzw. biographischen Hintergründen“, verdeutlicht Voswinkel das Problem. Zurückgegriffen habe er deshalb auf ein Konzept der Arbeitssituation „als eine Verbindung von belastenden und subjektiven Dispositionen und belastenden Arbeitsbedingungen.“

Privatdozent und Soziologe Dr. Stephan Voswinkel (Foto: Prof. Dr. Christian Rexrodt)

Als „Hintergrundannahme“ unterstellt Voswinkel in seinem interessanten Modell, dass ein gesundes Verhältnis zur Arbeit darin besteht, sich auf der einen Seite „die Arbeit aneignen zu können“ und sich auf der anderen Seite „von der Arbeit abgrenzen zu können.“ Im Folgenden beschreibt Voswinkel für alle Fälle „der verhinderten Aneignung der Arbeit“ und Fällen „der erschwerten Begrenzung der Arbeit“ jeweils exemplarische Beispiele aus der klinischen Praxis, die er in seinem Forschungsprojekt dazu gewonnen hat. Der Soziologe erläutert sechs Arbeitssituationen, die die Aneignung der Arbeit erschweren können: Zum einen, wenn die Arbeit als „sinnlos“ empfunden wird, wenn es „moralische Konflikte der Arbeit“ gibt oder wenn es „Missachtungserfahrungen und Gratifikationskrisen der Arbeit gibt“. Als weitere Fälle, die eine fehlende Aneignung der Arbeit bewirken könne, beschreibt der Forscher „unterwertige Beschäftigung und Statusprobleme in der Arbeit“, „unbestimmte Erwartungen und Anforderungen der Arbeit, verbunden mit defizitärer Führung und schließlich als letzten Faktor, der von ihm und seinen Forscherkollegen beobachtet wurde, die „übermäßige Kontrolle der Arbeit“.
Als typische Fallkonstellationen, die es den Mitarbeitern im Gegensatz dazu erschweren, sich von der Arbeit hinreichend abzugrenzen, beschreibt er „die endgrenzte Arbeit“, „die Arbeit mit Kunden“, „die Aufopferung“, „die Nähe zu Leiden und Tod“ (insbesondere bei Pflegeberufen) und gibt auch hier Beispiele aus der Praxis.
„Allerdings“, resümiert Voswinkel zum Aspekt „Abgrenzung von der Arbeit“ „sich abgrenzen lernen, ist eine verkürzte Lösung. Nein sagen hilft nicht immer“. Denn dadurch könne man die belastende Situation an sich nicht verändern. Vielmehr bewirke diese individuelle Lösung, dass sich die belastende Situation gegebenenfalls nur auf die Kollegen verschiebt und es nicht mehr gelingt, sich die Arbeit positiv anzueignen.
Sodann widmet sich Voswinkel in seinem Vortrag dem eigentlichen Kernthema, nämlich den „BEM-Erfahrungen unserer Probanden“. Hier kam Voswinkel zu der Erkenntnis, dass „nur eine Minderheit“ der psychisch erkrankten Erwerbstätigen überhaupt „eigene Erfahrungen mit BEM“ gemacht hatten. Als Gründe dafür stieß Voswinkel in seiner Studie insbesondere auf die „Stigmatisierungsangst“ der Betroffenen. „Wiedereingliederung“ werde in der Regel sogar lediglich „als von der Krankenversicherung finanzierte zeitweilige Arbeitszeitverkürzung verstanden“.
Bei psychischen Erkrankungen und BEM-Maßnahmen sei das Problem, dass diese eine „gewisse Transparenz“ voraussetzten. Bei der Transparenz befürchteten die Betroffenen jedoch die Stigmatisierung. Denn die Besonderheiten bei psychischen Erkrankungen – im Unterschied zu somatischen Erkrankungen – sei „die Verbindung von Erkrankung und Persönlichkeit“ sowie „die Unklarheit der Ausheilung“. Darüber hinaus seien Schnittstellenprobleme zwischen Klinik und Betrieb festzustellen: Es gäbe so gut wie kaum Kontaktaufnahmen seitens der Ärzte bzw. der Kliniken mit dem Betrieb bzw. mit den betrieblichen Akteuren. Darüber hinaus stellte er fest, dass es eine „geringe Kenntnis im klinischen Bereich über die Arbeitssituation an sich“ gäbe. So gäbe es z.B. eine „Unsicherheit bei den BEM-Beauftragten über die Angemessenheit der Kontaktaufnahme während der Erkrankung bzw. während des Klinikaufenthalts.“ Insgesamt sei festzustellen, dass aus der „Handlungslogik aller Akteure“ eine „Individualisierungstendenz“ entstehe.
Hierbei komme es sodann zu einer divergierenden Logik zwischen dem BEM und der psychischen Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutz. Voraussetzung sei bei Letzterer, dass es viele Betroffene und offensichtliche Gesundheitsgefährdungen gibt. Die Logik beim BEM sei demgegenüber „entgegengesetzt“. Ziel sollte es jedoch nach Auffassung von Voswinkel sein, eine Verbindung von BEM und Gefährungsbeurteilung herzustellen, um eine „vernetzte, integrierte Gesundheitspolitik“ zu ermöglichen. Hierbei gelte es, das folgende Problem zu überwinden: Das „Anonymitätserfordernis des BEM (die Schweigepflicht)“ müsse zwar selbstverständlich beachtet werden, aber zugleich müssten „Kommunikationsprobleme durch Stigmatisierungsangst“ überwunden werden – dies, unter der „Erschwernis“, dass psychische Belastung fälschlicherweise häufig mit psychischer Erkrankung gleichgesetzt werden würde und die Betroffenen deshalb darüber nicht sprechen wollten. Voswinkel schließt seinen Vortrag mit dem Plädoyer: „Lösungen des Einzelnen reichen nicht. Der soziale Kontext ist zu beachten. Veränderungen der Arbeitsbedingungen sind notwendig.“ Deshalb müsse man über die bestehende Individualisierungstendenz im BEM hinausgehen; denn „BEM-Fälle können kein Beleg“, sehr wohl „aber Indiz für mögliche generellere Belastungen sein“ und „auch die Erfahrungen/Probleme in der Umsetzung des BEM können aufschlussreich für generellere Gefährdungen sein“.
Wie dies gelingen könnte, zeigt Voswinkel in seinem Vortrag nicht mehr auf. Im anschließenden Erfahrungsaustausch der Teilnehmer/-innen mit dem Referenten sprechen die fachkundigen, aus der BEM-Praxis in Unternehmen sowie der BEM-Beraterpraxis stammenden Teilnehmer/-innen offen über ihre derzeitigen Herausforderungen und Probleme bei der Umsetzung und Etablierung eines effektiven BEM in der betrieblichen Praxis.

Plenum (Foto – sowie alle weiteren Fotos: Prof. Dr. Christian Rexrodt)

Forumsmitglied Andreas Kranig, ehemaliger langjähriger Leiter der Abteilung Versicherung und Leistung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und Honorarprofessor am Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, hält es für erklärungsbedürftig, warum über die Hälfte der Patienten des Forschungsprojektes in die Gruppe des mittleren Alters von 31 bis 40 fallen. Als einen Erklärungsansatz dafür, warum derzeit vermeintlich eine Zunahme psychischer Erkrankungen ggfs. zu konstatieren sei, nennt er, dass psychische Erkrankungen auch früher schon als Phänomen beobachtbar gewesen seien, dass die Probanden ihre Erkrankung jedoch auf zugleich auftretende somatische Beschwerden hätten beziehen können und so einer befürchteten Stigmatisierung hätten entgehen können.
Dr. Helga Seel meint dazu: „Ob die Zahl der Menschen mit psychischer Erkrankung gestiegen ist oder ob psychische Erkrankungen heute offener angesprochen werden – darüber streiten sich die Geister.“ Fest stehe, so Seel weiter, dass über 40 Prozent der Erwerbsminderungsrenten auf psychische Erkrankungen zurückzuführen seien und vielfach lebensjüngere Menschen beträfen. Bei frühzeitiger Unterstützung der Betroffenen, so Seel, könne ein drohender Arbeitsplatz vermieden werden. Das BEM könne dabei eine wertvolle Hilfe sein, dass sich eine psychische Erkrankung nicht verschlimmert.
Eine Teilnehmerin, die in einem Konzernunternehmen für das BEM verantwortlich ist, kommentiert das Ergebnis des Vortrages mit der Aussage: „Die Verhältnisprävention geht den Bach runter. Die Verhaltensprävention funktioniert nicht.“, und fügt als Grund dafür an, dass keiner „wirklich Geld in die Hand nehmen“ wolle. Quasi als Feigenblatt würde es vielen Unternehmen reichen, wenn sie Fitnesskurse und Informationsveranstaltungen zur Ernährung anbieten würden, anstatt an die eigentlichen Wurzeln und Ursachen der Probleme zu gehen. Ein Teilnehmer, selbst auch BEM-Verantwortlicher, gab zu bedenken, dass man mit dem BEM auch nicht zu viel Aufmerksamkeit allein auf die kranken Mitarbeiter lenken sollte und dabei die gesunden, leistungsfähigen Mitarbeiter, die deren Arbeit ggfs. mitmachen müssten, nicht vergessen dürfte.
Vorstandsvorsitzender des Forums, Prof. Dr. Laurenz Mülheims, bedankte sich bei dem Referenten sowie den rund 40 engagiert diskutierenden und aus ihrem breiten Erfahrungsschatz schöpfenden Teilnehmern und lud die Anwesenden ein, beim anschließenden Mittagsimbiss die Gespräche weiter zu vertiefen.

Von links nach rechts: Referent Dr. Stephan Voswinkel mit den Forumsmitgliedern Dr. Michaela Schuhmann, H-BRS, Gastgeberin Dr. Helga Seel, BAR, Prof. Dr. Laurenz Mülheims, H-BRS

 

Beiratsmitglieder Dr. Helga Seel, BAR, Prof. Bernd Petri, VBG